Die Stralsunder Wildcats unterstützen den Beschluss des vorzeitigen Saisonendes. Allerdings beschäftigt den Volleyball-Zweitligist die emotional brisante Frage: Meister oder nicht Meister?

Stralsund. Steffen Täubrich, Vorsitzender des 1. VC Stralsund, und André Thiel, Trainer der Zweitliga-Volleyballerinnen, hatten die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Betrieb der Volleyball-Bundesliga erahnt. Und trotzdem trifft der Entschluss über das vorzeitige Ende der Saison mit allen Konsequenzen Täubrich, Thiel und ihre Mitstreiter hart. Die Wildcats standen fünf Spieltage vor Schluss haarscharf vor dem ersten Zweitliga-Meistertitel der Vereinsgeschichte. Ein Sieg fehlte zum besten Abschneiden in elf Jahren Zweitligazugehörigkeit. Nun droht ein tristes Ende einer eigentlich glorreichen Saison. „Alles ist so komplex. Da gibt es im Moment mehr Fragen als Antworten“, sagt Täubrich mit Blick auf die anstehenden Entscheidungen, die nach der Abbruchs-Verkündung vom Donnerstag folgen müssen.

Vorzeitiges Saisonende ist alternativlos

„Der Spielbetrieb der 2. Bundesliga der Frauen und Männer wird mit sofortiger Wirkung eingestellt“, hieß es in der ersten VBL-Mitteilung am Donnerstag. Stunden später erklärte die Liga die Saison 2019/20 für beendet. Für Täubrich war der Schritt alternativlos: „Unter diesen Bedingungen kannst du nicht weitermachen, auch nicht mit Geisterspielen.“ Thiel, der als Gymnasiallehrer auch hauptberuflich von den Sicherheitsvorkehrungen stark betroffen ist, meint: „Da soll sich der Sport nicht so wichtig nehmen. Diese gesundheitliche Lage muss aus gesellschaftlichem Hintergrund betrachtet werden.“

Auch unter den Spielerinnen herrscht Einigkeit über die vernünftige Entscheidung. Am Sonnabendmorgen traf sich das Team vorerst ein letztes Mal. Täubrich hatte den Eindruck, die Einsicht über den Status quo würde persönliche Emotionen hintenanstellen.

Emotionaler Schaden am größten

Thiel und Täubrich betonen immer wieder, die Entscheidung der VBL voll mitzutragen. Das ist wichtig zu wissen, denn die Stralsunder Volleyballerinnen haben allen Grund klagen – aus mittel- bis langfristig finanzieller Sicht, aber vor allem auf emotionaler Ebene. „Für uns ist das der GAU!“, platzt es aus Thiel, der verdeutlicht: „Wir wären Meister geworden. Aber das, was wir emotional erlebt hätten, was keiner je vergessen hätte, ist uns genommen. Das kann man nicht beschreiben. Das ist total traurig für die Spielerinnen und tut mir unglaublich leid für alle, die involviert waren.“

Deshalb gibt sich der Trainer der Wildcats auch nach dem sportlichen Aus weiter kämpferisch. Eine Verbandsaussage bezüglich der Auf- und Abstiegs- sowie Meisterregelung sieht er als elementar an. Die VBL hat bereits veröffentlicht, dass es in der 1. Liga keinen Meister und Regelabsteiger geben wird. Kaweh Niroomand, Manager der Berlin Recycling Volleys, die bei Saisonabbruch auf Platz 1 der Männer-Bundesliga stehen, betonte gegenüber „Welt“: „Uns wird der deutsche Meistertitel genommen.“ Da aber im Vergleich zur 1. Liga im Unterhaus letztlich keine Play-offs über den Meister entscheiden, plädiert André Thiel für eine nachträgliche Vergabe des Titels auf Grundlage der aktuellen Tabelle. „Wir dürfen nicht so tun, als ob die Saison nicht stattgefunden hätte. Lieber sollen die letzten vier als die bisherigen 20 Spiele gecancelt werden.“

Aktuell gibt es im Volleyball aber keine Regelung, die besagt, dass die Tabelle nach einer bestimmten Anzahl gespielter Partien aussagekräftig genug ist, um Meister, Auf- und Absteiger bestimmen zu können. „Ich sehe keinen Grund, nach so vielen Spielen, nicht das aktuelle Ergebnis entscheiden zu lassen. In der Formel 1 oder beim Skispringen gibt es diese Lösungen“, begründet Thiel.

Natürlich argumentiert der Stralsunder aus der Position eines wahrscheinlichen Meisters, stünde sein Team im Niemandsland der Tabelle, würde er sich weniger leidenschaftlich um ein geregeltes Ende der Saison bemühen. Doch es geht ihm um die Anerkennung der mitunter sensationellen Leistung seines Teams. Die Wildcats blieben zwölf Mal, darunter sieben Wochen lang, ohne Satzverlust und nur einmal überhaupt ohne Punktgewinn. Die Konkurrenz aus Berlin, Borken und Köln gratulierte den Wildcats bereits persönlich für das Erbrachte. Die offizielle Honorierung in Form des Meistertitels bliebe Stand jetzt aber aus. „Ich bin mir sicher: Wenn wir nicht zum Meister ernannt werden, würde mich das erheblich treffen.“

Die Hoffnungen scheinen nicht sehr groß. Die Stralsunder Klubverantwortlichen rechnen nicht mit einer moralischen, sondern mit der rechtlich handfesten Entscheidung.

Langfristig finanzieller Schaden noch nicht absehbar

Der finanzielle Schaden, soweit bereits absehbar, hält sich für die Stralsunder derzeit in Grenzen. Das Ausbleiben der Erlöse aus den beiden Heimspiele gegen Emlichheim und Bad Laer, zu denen Zuschauerrekorde jenseits der 600 Fans zu erwarten gewesen wäre, gleicht sich in etwa mit den Kosteneinsparungen der drei abgesagten Auswärtsfahrten aus. Die Vertragszahlungen für Spielerinnen und Trainer können eingehalten werden. „Die waren ja sowieso eingeplant“, bestätigt Täubrich. Die begonnenen Besorgungen für eine eventuelle Meisterfeier wurden storniert.

Allerdings hat die Corona-Krise von der Wirtschaft bereits auf den Zweitligisten durchgeschlagen. „Erste Sponsoren sind zu mir gekommen und haben bedauert, dass sie uns – zeitweise – nicht mehr unterstützen können“, erzählt der Klubchef.

Eine Liga höher scheinen die Auswirkungen drastischer. Die United Volleys Frankfurt, Tabellenzweiter hinter den BR Volleys, sehen sich in ihrer Existenz gefährdet. Vom einem Schaden im „sechsstelligen Bereich“ berichtet Geschäftsführer Jörg Krick der Frankfurter Allgemeine Zeitung.

André Thiel ist sich sicher: „Die Gemeinschaft wird für den Schaden aufkommen müssen.“ Damit meint er, dass Zugeständnisse von allen Seiten ein Fortbestehen der Sportart(en) am Leben erhalten werden. „Wir werden unseren Sponsoren entgegenkommen. Gleichzeitig werden die sicher nicht sagen: Wir unterstützen euch gar nicht mehr. Auch der Verband wird Abstriche machen müssen.“

Szenarien, wie es weitergehen könnte

Inwieweit die Zugeständnisse den künftigen Spielbetrieb verändern werden, ist noch völlig unklar. Es gibt mehrere Szenarien. Sollte beispielsweise nur die Abstiegs- nicht aber die Aufstiegsregelung außer Kraft gesetzt werden, würde es zwangsweise zu Aufstockungen in den 2. Bundesligen kommen, da keine Mannschaft für die 1. Liga gemeldet hat, aus der 3. Division wohl aber Interesse an der nächsthöheren Liga besteht. So würde die Wildcats-Liga von jetzt 13 auf mindestens 15 Teams anwachsen. Sollten nicht nur die derzeitigen Drittliga-Spitzenreiter sondern auch die Teams, die noch Chancen auf den Aufstieg gehabt hätten, ihr theoretisches Recht einfordern, droht eine weitere Aufblähung.

Dem könnte nur entgegengewirkt werden, wenn die VBL die Hürden für die erste Liga herunterschraubt und so jetzigen Zweitligisten doch noch eine Art „Freifahrtschein“ für das Oberhaus ausstellt. Vor wenigen Tagen hatte VBL-Geschäftsführer Klaus-Peter Jung gegenüber dem bayrischen Medium idowa durchblicken lassen, die Bundesliga perspektivisch auf 14 Klubs aufstocken zu wollen. Allerdings wäre das für den 1. VC Stralsund ein wohl nicht zu stemmender Hau-Ruck-Akt. Mittwochsspiele, wie sie in der 1. Liga üblich sind, sind mit Amateur-Spielerinnen genauso wenig zu bewältigen wie ein übervoller Spielplan bei Zweitliga-Aufstockung.

Auch wenn die Saison für vorzeitig beendet erklärt wurde, möglich wäre auch eine Fortführung der Spielzeit zu einem späteren Zeitpunkt, womöglich erst 2021.

Bei den Fans und Helfern will sich der 1. VC auf jeden Fall noch für die bisherige Unterstützung bedanken. Zeitpunkt offen. „Wahrscheinlich zu Beginn der neuen Spielzeit“, mutmaßt Täubrich. Thiel ergänzt: „Es kommt drauf an, ob es was zu feiern gibt“ und meint damit den Meistertitel.

Von Horst Schreiber (OZ)